Ich weiß nicht, ob du das kennst, aber mir ist es schon so oft passiert … und heute wieder. Aber irgendwie war es heute anders als sonst. Was ist passiert? Ich erzähl es dir.
Nach mehreren Stunden vor dem PC bin ich erpicht darauf, mich auf das Fahrrad zu schwingen und mir die unterm Hintern angestaute Energie abzustrampeln. Ein Ziel hab ich auch schon: die wöchentliche Gemüseration auf dem Biohof abholen. Der Wind bläst kräftig, die Wolken fliegen eilig durch den Himmel und ab und zu schimmert die Sonne durch. Ein letzter Blick auf den Wetterbericht versichert mir, dass es ausdrücklich nicht regnen soll. Also 30% Regenwahrscheinlichkeit heißt bei mir KEIN Regen. In Kombination mit 14°C ideale Bedingungen zum Radfahren.
Nach wenigen Minuten trifft mich der erste Regentropfen. Bleib bloß fern von mir! Schon gesellt sich der zweite Tropfen hinzu. Aber das hört bestimmt gleich wieder auf! Aber aus zwei Tropfen werden plötzlich ganz viele, bis sich die Tropfen zu einer regelrechten Dusche verbündet haben – alle gegen mich. Mein Ärger-Barometer schießt blitzschnell in die Höhe. Als ob gleich der erste Regentropfen auf einen Knopf gedrückt und mein Wut-Programm gestartet hätte. Mein Brustkorb beginnt zu kochen, die Stirn verkrampft sich und die Hände krallen sich fester um den Lenker. Verdammt, muss das gerade jetzt sein? Hätte der Regen nicht noch eine Stunde warten können, bis ich wieder zu Hause bin? Die Liste der inneren Flüche nimmt zu. Die Hose hat sich mittlerweile mit nassem Griff schwer um meine Oberschenkel geklammert. Ich spüre den eiskalten Kontakt auf der Haut. Na toll, jetzt werde ich auch noch krank – das fehlte noch!!! Morgen muss ich doch fit sein… Hin und her gerissen mit Gedanken in meinem Kopf merke ich plötzlich, wie sinnlos diese Gedanken doch gerade sind und den Regen nicht aufhalten können. Ich merke, wie sehr ich in meinen Gedanken gefangen bin und gar nicht mitkriege, was eigentlich gerade wirklich passiert – in mir und um mich herum. Nur Regen und Ärger. Mir reichts. Ich entscheide mich, die belastenden Gedanken loszulassen und meine Aufmerksamkeit auf meinen Körper zu richten – und bin erstaunt!
Ich sehe meine leuchtend roten Hände, die von einem strömenden und prickelnden Gefühl durchzogen sind. Die Socken sind durchnässt und die Füße fühlen sich erstaunlich schwer an, umgeben von einem kühlenden Film. Ich muss fast schmunzeln, weil ich feststellen, was es alles in diesem Moment in meinem Körper zu spüren gibt. Der Tropfen, der von meiner Nasenspitzen herunterhängt und sich bereit macht, in den freien Fall zu gehen. Der metallische Geruch des Regens, den ich gleich darauf als metallischen Geschmack im Mund wahrnehme. Das Tänzeln der Regentropfen auf meinem Gesicht. Das Geräusch des tosenden Prasseln des Regens lässt auch meinen Hörsinn „aufhorchen“. Kalte Atemluft strömt in meinen Körper, meine Lunge schmerzt etwas, wobei der Schmerz mit jeder Ausatmung etwas nachlässt. Ich bemerke, dass die Nässe recht bald meine Ärmel der Regenjacke durchdrungen hat und sich auf meinen Pullover gelegt hat, um auch meinen Armen von der Kälte zu berichten. Die Ellbogen sind noch trocken. Auf diese Weise durchscanne ich meinen ganzen Körper mit all meinen Sinnen und komme mir schon seltsam vor, dass ich in diesem Moment gar nicht mehr verärgert über den Regen bin. Im Gegenteil – ich muss lächeln und erfreue mich der ganzen interessanten Erfahrungen, die ich auf diese Weise machen kann.
Als MBSR-Lehrer weiß ich, dass der sogenannte Bodyscan eine wesentliche Rolle bei den Achtsamkeitsübungen in dem achtwöchigen MBSR-Kurs einnimmt. Gleich in der ersten Woche leite ich den Bodyscan an. Wir liegen auf einer Matte auf dem Boden und lenken die Aufmerksamkeit durch den ganzen Körper – von den Füßen hoch bis zum Kopf. Und nehmen die jeweilige Körperstelle wahr mit all den Empfindungen in diesem Moment, so wertfrei wie möglich. Ich weiß auch, dass der Bodyscan für viel anfangs eine Herausforderung darstellt und sie mit der Übung in den kommenden Wochen des MBSR-Kurses einen besseren Zugang zu ihrem Körper erfahren. Dass sie zunehmend besser entspannen können und besser schlafen können. Auch mir geht es so. Aber diese Fahrradtour hat mir etwas ganz besonderes gezeigt: nämlich dass ich zwar den Bodyscan als Trockenübung auf der Matte üben kann, aber dass ich so sehr davon profitieren kann, wenn ich diesen in mein Leben und in die ganz alltäglichen Situationen bringe, besonders dann, wenn es mal herausfordernder wird – und ich am liebsten wegrennen würde. Dann kann ich mich entscheiden, ob ich mich weiter in die Gedanken verfange und mit meinen Gefühlen ausplustere, oder mir lieber darüber bewusst werde, was da alles in meinem Körper und um ihn herum vor sich geht – und die Welt sieht plötzlich ganz anders aus.
Dein
Johannes